Tagchen allerseits,
heute Abend spielt Deutschland. Wahrscheinlich fliegen sie raus gegen Spanien, die wirklich beste Mannschaft, aber in einzelnen Spielen entscheidet Tagesform statt allgemeiner Qualität. Wir werden ja-mal sehen, wie es läuft.
Bei dieser EM gibt es die beste Version des VAR, die wir bislang sehen konnten. Alles wird wirklich 100%ig genau überprüft. Aber ist es das, was wir wollen? Ich denke nein. Meine Gründe:
Selbst wenn der VAR perfekt wäre und alles richtig macht, was vorher manchmal falsch lief, gibt es ein riesiges Meta-Problem: es werden immer Tore aberkannt, es wird niemals eins dazu erkannt. Das bedeutet, es gibt weniger Tore als früher. Was denkt ihr, lieben die Zuschauer am Spiel - lange Phasen ohne Tore oder Tore? Ein 1:0 oder lieber ein 5:4 mit drei Führungswechseln?
Das Wichtigste beim Fußball sind für die Zuschauer und die Atmosphäre überschäumende Emotionen. Nun können wir aber nicht mehr jubeln beim Tor, sondern warten erstmal, ob es durchgewunken wird. Aus einem Spiel ohne Stop Clock wird nun ein Stop-Clock-Spiel. Das verändert den Fußball und seine Emotionalität ganz beträchtlich.
Durch aberkannte Tore entsteht der Effekt, daß die Fans des Teams, das nun kein Gegentor erleidet, jubeln. Dabei hat niemand in diesem Fall dafür etwas getan, weder ein eigener Spieler noch sonstwer. Auch nicht gut.
In Summe finde ich, daß mich knappe Fehlentscheidungen menschlicher Schiris nicht vom Spiel abbringen, sondern sie gehören eher dazu. War jemand 3 cm im Abseits, dann ist das eben menschliche Ungenauigkeit in einem Spiel voller Menschen. Wenn Dir das nicht passt, kiek Roboterfussball oder spiel Bundesliga-Manager auf Deinem PC. Grobe Fehler wie das England-Tor 1966 sollte der VAR ausmerzen, kleine Fehler sind Teil des Spiel und Teil unserer Erzählungen, Erinnerungen und Emotionen. Sie gehören per Definition zu diesem Spiel dazu.
Egal. Ick sach ja nur.
Viel Spaß beim Lesen,
eure Internetkanone Gregor Gregarious Gross
Knast
Mit Gefängnis, Gefängnisstrafen und Häftlingen gehen wir heutzutage irgendwie anders um als früher in meinem Leben, finde ich, oder sogar davor. Oder was weiß ich. Hier meine wirren Gedanken um dieses Thema:
Ich erinnere mich an Johnny Cashs Konzerte aus Haftanstalten (At Folsom Prison, At San Quentin), und wie gut das passte für den unvermittelten, direkten Sound, aber auch für die Häftlinge, die man laut grölen hört. Aber heutzutage höre ich nie davon, daß ein Musikstar ein Konzert im Knast geben würde.
Häftlinge und Verurteilte stehen wie früher unten in den Augen der Gesellschaft. Das heißt, bis auf Donald Trump und in Deutschland die Reichsbürger - obwohl deren Gefolgschaft sich immer justiztreu und für knallharte Bestrafungen einsetzt (ihre beliebste Attraktionsmethode ist das Fordern der Todesstrafe für Pädophile), sehen sie in diesen Fällen die Urteile gegen sich selber als Auszeichnung des Widerstands an. Auch in den Augen der Rechten gibt es also “gute” (die eigenen) und “schlechte” (alle anderen) Verurteilte, und somit gute und schlechte Urteile und somit eine korrekte oder eine versiffte Justiz.
Mehrere meiner Lieblingsbücher sind im Knast geschrieben worden oder handeln dort:
Alexander Solschenizyn - Der Archipel Gulag (enthält auch viel persönliche Erfahrungen)
Andrej Stasiuk - Die Mauern von Hebron (eine Kurzgeschichtensammlung mit krassem Zeug aus Polens Knasts)
Walter Kempowski - Im Block: über Kempowskis Zeit im Gelben Elend, dem berüchtigsten Knast der DDR
Erich Loess - Durch die Erde ein Riß (auch übers Gelbe Elend, in der DDR verboten)
Imre Kertesz, Primo Levi und viele andere über ihre Erfahrungen in deutschen KZs
und nicht vergessen, die fiktiven Romane, angefangen mit Alexandre Dumas’ Der Graf von Monte Christo, das ich als kleiner Junge las
Vergesst auch nicht die vielen coolen Ausbrecherfilme oder -serien!
Wusstet ihr, daß das Wort Panoptikum aus dem Griechischen stammt und quasi jeden anschauen bedeutet? Ende des 18. Jahrhunderts schuf Jeremy Bentham die Entwürfe für ein Gefängnis, in dem ein einzelner Wärter (ohne jegliche Kameras) alle Häftlinge überwachen kann, ohne dass diese es merken - und nannte es Panopticon! Das erinnert mich natürlich an George Orwell und 1984, in dem der Staat sich denkt, wie cool, oder ans moderne Internet, wo jeder verschissene Entrepreneur aus Kalifornien das so sieht.
The Oldest Ecosystems on Earth (by Ferris Jabr, Nautilus.com)
Das Great Barrier Reef ist anscheinend so oder so ähnlich seit ca. 600.000 Jahren am Start. Der Amazonas-Wald ist anscheinend bereits 55 Millionen Jahre vorhanden.
Das Interessante daran ist, daß sich diese Ökosysteme ihre eigenen Umweltbedingungen schaffen, in denen sie florieren. Und so kann ein Superorganismus beinahe ewig leben, während seine Teile, die einzelnen Organismen, jeweils nur ein Leben lang dabei sind und ständig ein- und ausgewechselt werden. Aber der Superorganismus, das gesamte Korallenriff, der gesamte Wald im Amazonas, lebt beinahe für immer:
Seagrass meadows, coral reefs, and rainforests share several key qualities. They all inhabit the tropics, which tend to be less climatically volatile than more extreme latitudes. They are all founded by organisms that are themselves highly resilient and adaptable. And, to some extent, they all create or reinforce the very conditions they need to survive. By slowing waves, trapping sediments, performing photosynthesis, filtering and oxygenating water, and sequestering carbon in their structures, both seagrass meadows and coral reefs make their environments calmer, clearer, less acidic, more nutrient-rich, and all around more habitable.6 Corals also produce more of the rocky substrate they need to grow.
“Das Leben,” würde Ian Malcolm sagen, “das Leben findet immer einen Weg.” Denn sobald etwas Lebendes auftritt, fängt es an, seine Umwelt für sich positiv zu verändern. Regenwälder erzeugen ihren eigenen Regen, Korallen erzeugen ihren eigenen felsigen Untergrund usw.
Was ich so las in the meantime:
Colson Whitehead - The Intuitionist: Ein wirklich großes Buch, dieses Debüt von Colson Whitehead aus 1999. Es geht um eine Fahrstuhlinspekteurin, die in eine politische Untersuchung gerät, die mitten im Wahlkampf für den Chef der Inspekteurgilde stattfindet. Dunkel, lustig, allegorisch bis in die Haarspitzen.
Andrzej Sapkowski - Feuertaufe: Wie immer unterhaltsam, schnell durchgelesen und Spaß gehabt. In diesem Buch sehr viel Fokus auf Geralt, der mit einer seltsamen Reisegruppe nach Ciri sucht, von der wir in diesem Band fast gar nichts erfahren.
Kaum kommentierte Links:
Stomach eversion and retraction by a tagged tiger shark at Ningaloo Reef, Western Australia: Haie kotzen gerne, wenn gefangen, ihren Magen aus, indem sie ihn komplett ausstülpen. Mit Video!
An amazing image of Io, Jupiter’s tortured hell-moon: Wow. Unscharf, aber ist da was los.
Ameisen amputieren gezielt Beine von Artgenossen: Keine Scheiße, Alta. Die haben wie wir Feldscher und Feldsanis erfunden.
Alles wieder wunderbar lesenswert. Und zur Gulag-Literatur hinzufügen möchte ich dieses Fundstück: "Fone Kwas oder Der Idiot" von Georgi Demidow (allein die Überlieferungsgeschichte ist eine irre Odyssee)